Die Auseinandersetzung mit dem Migrationsapparat in der Schweiz veranschaulicht deutlicher wie andere Herrschaftsformen die Brutalität, mit der in unserer Gesellschaft mit Menschen umgegangen wird. Von einem bürokratischen Apparat legitimiert, im demokratischen Gewand umhüllt, werden Menschen in Lagern konzentriert, in verschiedene Verwertungskategorien eingeteilt und in ihrem selbstständigen Handeln stark eingeschränkt. Das Migrationsregime bietet zig Gründe, es zu verachten und abzulehnen; in irgendeiner Form dagegen aktiv zu werden und sich mit Migrant*innen zu solidarisieren. Gleichzeitig konfrontiert Mensch die Auseinandersetzung mit dem Migrationsregime mit eigenen Privilegien und Widersprüchen und wirft die Frage der Solidarität auf.
Sich mit dem Elend anderer konfrontiert zu sehen, kann zu Ohnmacht und zu Schuldgefühlen führen. Diese kommen von der Erkenntnis, dass die Privilegien, die Mensch als Schweizer*in «geniesst», völlig willkürlich sind und auf der Unterdrückung und dem Ausschluss tausender anderer Menschen beruhen. Dass der Überfluss an Materiellem, der Lebensstil, den wir pflegen, nur einem ausgewählten Teil der Gesellschaft möglich ist. Schuldgefühle sind eine Antwort auf unser eigenes Handeln (oder eben nicht-Handeln), also auf die Art, wie wir unser eigenes Leben führen. Eine mögliche Reaktion darauf ist ein karitativer Reflex, der Versuch etwas von seinen Privilegien abzugeben und anderen Menschen irgendwie zu helfen. Sei es durch das Beibringen der Sprache, der Bereitstellung materieller Güter, das Schreiben von juristischen Beschwerden. Ich will keinesfalls diese Arten von Unterstützung als per se schlecht oder unnütz darstellen. Allerdings sollte vor dem Handeln auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Position, den eigenen Privilegien stattfinden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Position impliziert eine Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der rechtlichen und politischen Institutionen. Erstere werden durch Letztere in Komplizenschaft mit den gesellschaftlichen Mitglieder*innen produziert und beeinflussen das eigene Leben stark. Kommt Mensch zum Schluss, dass er diese Gesellschaft ablehnt, heisst dies automatisch auch seine eigene Position, seine eigene Lebensführung kritisch zu hinterfragen und seine vom Staat erhaltene Position abzulehnen. Mit der Ablehnung dieser Gesellschaft werden wir alle zu Unterdrückten, weil die Verhältnisse, in denen wir leben, nicht von uns selbst bestimmt werden. Gegenüber anderen privilegiert sein, bedeutet in dem Sinne, vergleichsweise weniger Ausbeutung und Unterdrückung in dieser Gesellschaft zu erleiden. Mensch mag nun argumentieren, dass wir doch in der Schweiz, einem verhältnismässig fortschrittlichen Land leben. Wenn damit die technischen und ökonomischen Neuerungen gemeint sind, die zur Steigerung des Konsums der Gesellschaftsmitglieder beitragen, mag dies stimmen. Die Schweiz ist gewiss ein Land, in welchem du, sofern du über die nötige gesellschaftliche Stellung verfügst, ein Leben voller materieller Sicherheit und Konsum führen kannst. Wenn Fortschritt aber als Massstab verstanden wird, welche die Möglichkeit zur freien Gemeinschaft mit anderen, zur Selbstverwirklichung und zur Eigeninitiative der Menschen misst, so leben wir doch in einem gar unfreien und rückständigen Staat, einem Land voller (Selbst)disziplinierung und Beschränkungen, die unseren gesamten Alltag durchdringen. Es bleibt die Frage aufzuwerfen inwiefern jede*r ein angepasstes Leben führt und sich in diese Gesellschaft integrieren lässt. Inwiefern wir die Verhältnisse kritisieren, in denen wir leben, aber in unserem Alltag den für uns vorgesehenen Platz nicht verlassen und an unseren Privilegien hängen. Natürlich kann Mensch die Privilegien, die er hat, nicht einfach ablegen, aber er kann sie ablehnen, indem er in Konflikt mit Strukturen und Mechanismen tritt, die die Menschen kategorisieren und fremdbestimmen und somit den persönlichen Konflikt zum Teil des Kampfes gegen das Migrationsregime machen. Die Verweigerung seiner eigenen gesellschaftlichen Position ist kein rein individueller Akt und muss im Zusammenschluss mit anderen geführt werden. Jedoch steht zuallererst die individuelle Entscheidung, die Institutionen, welche uns in Machtpositionen zu anderen setzen, zu negieren und zu bekämpfen. Um zum Widerstand gegen das Migrationsregime zurückzukommen, stellt sich nun die Frage, was Solidarität in diesem Bereich heissen kann. Solidarität sollte keinesfalls als eine Beziehung des Dienstes, basierend auf der Konzeption der Schuld sein. Nicht Individuen sind es, die in der Schuld von irgendwem stehen, sondern die soziale Ordnung ist es, die Menschen etwas aufzwingt. Schuldig sind wir nur (und vor allem gegenüber uns selbst), wenn wir die soziale Ordnung, so wie sie ist, akzeptieren und unseren vordefinierten Platz darin einnehmen. Wenn Solidarität bedeutet zusammen mit seinen Mitmenschen als Gleiche zu verkehren, um unsere gemeinsamen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, muss Solidarität auch bedeuteten die Verhältnisse, die ein auf Freiwilligkeit und Bedürfnissen basierendes Zusammenleben verhindern, zu negieren. Solange es Staaten, Gesetze, Normen und eine Ökonomie gibt, die uns definieren und unser Handeln bestimmen, gestaltet sich ein solidarischer Zusammenschluss von Menschen als sehr schwierig. Solange Machtverhältnisse unser Verhalten und unser Handeln beeinflussen, solange Kategorisierungen uns trennen, können wir unsere Existenz nicht selbst bestimmen. Eine Grundvoraussetzung für einen solidarischen Umgang mit Menschen, welche weniger privilegiert als Mensch selber sind, ist der persönliche Konflikt mit dieser Gesellschaft, welcher sich auch im alltäglichen Leben manifestieren muss und die Suche nach Wegen, wie wir der Unterdrückung etwas entgegenhalten können. Solidarisch sein heisst natürlich auch, sich der unterschiedlichen Ausgangslagen von Menschen bewusst zu sein und ihnen Rechnung zu tragen. Zu versuchen die Isolierung ausgeschlossener Menschen zu durchbrechen und nach Wegen gemeinsamen Handelns zu suchen; Eine Praxis zu finden, welche nicht auf der Integration von Ausgeschlossenen in diese Gesellschaft beruht, die wir ja eigentlich ablehnen, sondern eine, welche diese Gesellschaft negiert und angreift und mit anderen Formen des Zusammenlebens experimentiert.
Dieser Artikel soll als Diskussionsanstoss zur kontroversen Frage dienen, was Solidarität mit migrantischen Kämpfen bedeuten kann. Durch verschiedene Tätigkeiten kam der Autor in Kontakt mit dem repressiven Migrationsapparat und solidarischen Gruppen. In Letzteren fehlt ihm oftmals der Bezug zum eigenen Leben und zu eigenen Privilegien. Der Autor dieses Textes ist ein Schweizer Bürger, der den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbracht hat.