An den Strukturen der Verhältnisse rütteln

In den folgenden Abschnitten werden einige widerständige Aktionen und Formen des Protestes aufgelistet. Die Auswahl ist weder umfassend noch repräsentativ. Es ist eine laufende Arbeit, auf der Suche nach dem, was es so gibt, um inspiriert zu werden und um selbst mehr Klarheit zu bekommen. Wen und was will mensch erreichen? Was sind Potentiale und Konsequenzen von verschiedenen Aktionen? Was ist im Rahmen der eigenen Ideologie oder den zur Verfügung stehenden Mitteln möglich? Welche andere Kontexte gibt es – wie ändert sich dabei die Aktion? Schlussendlich soll es uns bestärken, uns als Teil einer Welt zu wissen, in der nicht alle gleich denken und handeln – und viele den Mut haben, etwas gegen Regime und bestehende Ordnungen in die Welt zu setzen.
Die Beispiele betreffen nicht alle direkt das Migrationsregime, sondern auch den Widerstand gegen die Strukturen unserer Gesellschaft, die ein solches Regime ermöglichen. Ich bewerte die Beispiele unterschiedlich, habe aber, um der Vielfalt willen, unterschiedlich motivierte Aktionen und Menschen mit verschiedenen Handlungsspielräumen, Mitteln und Zielen aufgelistet. Die Beschreibungen sind nicht meine eigenen Interpretationen, sondern sinngemäss aus Selbstbeschreibungen sowie anderen Artikeln und Berichten übernommen. Es wird nur wenig Information geliefert, dafür gibt es zusätzliche Links. Alle können selbständig recherchieren, was sie interessiert.

 

Protest- und Aufstandswelle im Moira Camp
Am 20. Oktober 2017 startete eine Protest- und Aufstandswelle im Moira Camp in Lesbos aufgrund der untragbaren Bedingungen. Jede Woche werden 7 – 20 Personen in die Türkei ausgeschafft. Es gibt zu wenig Anwälte für die Rechtsvertretung der geflüchteten Menschen. Die Menschen stecken auf der Insel fest, die Zelte des Camps sind nicht wasserdicht und die medizinische Versorgung ungenügend. Also haben sich einige für einen Hungerstreik zusammengeschlossen und den Sappho Square in Lesbos besetzt. Der Protest dauerte 33 Tage und wurde regelmässig von Polizeigewalt gestört.  Einige Protestierende wurden ausgeschafft. Und so gehts weiter.
Briser les frontière
Briser les frontières ist der Name für ein grenzübergreifendes Netzwerk von Menschen in der Gegend der Grenze von Italien und Frankreich. Ihr Ziel ist es, die Grenzen aufzubrechen und einen Kampf gegen profitorientierte, naturverwüstende und Menschenleben ignorierende Interessen zu führen. Es wurden bereits illegalisierte Menschen tot oder mit erfrorenen Gliedmassen in der Gegend gefunden. Briser les frontières veranstalten Protestmärsche entlang der Grenze und leisten Nothilfe.
Hungerstreik auf dem Syntagma Square, Athen
Vom 1. – 14. November 2017 gab es einen Hungerstreik auf dem Syntagma Square in Athen. Sieben Frauen und Sieben Männer fasteten, um auf die Verzögerung in der Familienzusammenführung aufmerksam zu machen. Sie sitzen länger als 6 Monate auseinandergerissen fest, wogegen sie mit dem Hungerstreik ein Zeichen setzen wollten. Es wurde eine Pressekonferenz organisiert. Einige der Protestierenden wurden in das Spital eingeliefert. Nach 15 Tagen endete der Streik wie geplant. Es ist nicht bekannt, ob der Streik einen Effekt auf das Anliegen der Hungernden hatte.
http://hungerstrike.commonstruggle.eu/
Festivals gegen Militarisierung in der Türkei
Militourism festivals organisiert Festivals gegen Militarisierung in der Türkei seit 2004. Dabei werden Tourismus, Spektakel und Anti-Politik ironisch nebeneinandergestellt. Zudem werden Orte und deren Geschichtsschreibung bei Touren, Protesten und Ausstellungen besucht.
Clandestine Insurgent Rebel Clown Army
Clandestine Insurgent Rebel Clown Army ist eine Gruppe, die sich an Demonstrationen mit armeeartigen Clownanzügen verkleidet, um sich über Autoritäten lustig zu machen. Ebenso gibt es die Praxis, sich in Pink und Silber als Cheerleader zu verkleiden. Beide Taktiken versuchen Verwirrung zu stiften und feste Kategorien so wie kulturelle Codes über den Haufen zu werfen (weiblich-männlich, gewaltlos-gewalttätig, usw.).
Kommunikationsguerilla und culture jamming
Kommunikationsguerilla und culture jamming sind beides Strategien, um mittels Sprache Verwirrung zu stiften und Festgefahrenes zu hinterfragen/zerstören. Adbusting ist eine Form der Kommunikationsguerilla. Dabei werden Logos oder Werbungen leicht verändert. Ein einfaches Beispiel ist das Übermalen des “S“ von Shell. Das Logo ist nach wie vor erkennbar, doch es heisst nun hell (Hölle) und nicht mehr Shell, was auf die Geschäftspraxis des Grosskonzerns hinweist.
https://www.metronaut.de/2012/05/medienhacking-im-wandel-kommunikationsguerilla-politischer-aktivismus/
Immigrant Movement International
Tania Bruguera Fernández ist eine kubanische Artivistin. Sie hat viele Aktionen auf ihrer Webseite dokumentiert. Als Teil der Gruppe „Immigrant Movement International“ hat sie beispielsweise Unterschriften gesammelt für einen offenen Brief an Papst Franziskus, um ihn aufzufordern, benachteiligten Menschen die vatikanische Staatsbürgerschaft zu gewähren.
Afghan Refugees Movement
Afghan Refugees Movement ist eine unabhängige Gruppe in Frankfurt, die sich gegen Ausschaffungen nach Afghanistan wehrt. Sie organisieren regelmässig Demonstrationen. Die letzte fand am 6.12.17 direkt am Flughafen Frankfurt statt, wo 500 Menschen gegen die Ausschaffung von 27 Menschen nach Afghanistan protestierten. Die Gruppe organisiert auch andere Veranstaltungen, wie Vorträge oder Gruppentreffen.
Center for Tactical Magic
Das Center for Tactical Magic engagiert sich in der Bildung und Störung von Macht durch die Verwendung von Geschichten, Symbolen und Bildern. Ihr Ziel ist die Emanzipierung von Menschen, um sich ihre eigene Lebensrealität zu schaffen. Auf ihrer Webseite gibt es verschiedene Anleitungen, wie der Alltag gestört werden kann.
Berlin Umsonst
Die Gruppe Berlin Umsonst hat falsche Tickets des Berliner öffentlichen Verkehrs gedruckt und verteilt – öffentlicher Verkehr sollte für alle umsonst sein. Ausserdem wollten sie auf die rassistisch-kriminellen Assoziationen des Begriffs “Schwarzfahren” hinweisen und haben ihre Aktion Pinker Punkt genannt. Früher gab es auch den roten Punkt:
http://www.linkfang.de/wiki/Roter-Punkt-Aktion
Kein Mensch ist illegal
Die Gruppe Kein Mensch ist illegal verband sich gegen die Komplizenschaft der Fluggesellschaft Lufthansa mit dem Staat bei der Ausschaffung von Menschen. Die Kampagne startete mit einer Image-zerstörenden Aktion, bei der sie mit einer neuen Budgetklasse namens „Deportation class“ Werbung für die Lufthansa machte. Das wären Sitze neben Menschen in Handschellen und Klebeband über dem Mund – die Preise sind dafür günstiger. Sie verwendeten Flyer, hackten die Webseite der Lufthansa, tauchten an der GV und bei Pressekonferenzen der Lufthansa auf und performten Ausschaffungen am Flughafen. Sie erreichten zwar nicht die Verhinderung von Ausschaffungen an sich, doch die Lufthansa führt keine Ausschaffungen mehr durch.
The Space Hijackers (Die Raum Entführer)
The Space Hijackers (Die Raum Entführer) irritierten bis 2014 den öffentlichen Raum in London. Sie kämpfen gegen die Beeinträchtigung des kollektiv geteilten Raumes durch Organisationen, Stadtplaner*innen und andere Schelme. Beispielsweise haben sie es strategisch ausgeklügelt geschafft, in eine Waffenhandelsmesse mit einem Panzer einzubrechen und ihn dort zu versteigern. Auf ihrer Webseite haben sie eine umfangreiche Dokumentation all ihrer Aktionen aufgeführt: Zum Beispiel ein Onlinetest: https://spacehijackers.org/amIananarchist/index.html
Biotic Baking Brigades
Die Biotic Baking Brigades ist ein loses Kollektiv, das berühmten Menschen, die „Verbrechen gegen Menschen und Land verüben“, Kuchen ins Gesicht wirft. Es schreibt auf seiner Webseite: “Dieses Aufbäumen hat seine Wurzeln nicht im Glauben, dass unser Planet stirbt, sondern er wird getötet und die, die das Töten verursachen, haben Namen und Gesichter.“
https://web.archive.org/web/20030622231356/ http://www.bioticbakingbrigade.org:80/index.html
Festival über unkonventionelle Kunst, bei dem sie auftraten:
http://theinfluencers.org/en/biotic-baking-brigade 
Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS)
Das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) in Berlin ist ein Zusammenschluss von Aktionskünstlern, die im Namen des „aggressiven Humanismus’“ diverse Aktionen in Deutschland und der Schweiz inszenieren. Eine Aktion nannte sich „Europäischer Mauerfall“. Dabei wurden bei einer Gedenkstätte für die Toten an der Berliner Mauer die Kreuze abmontiert und für den 25. jährigen Gedenktag des Mauerfalls zu ihren Brüdern und Schwestern an die EU-Aussengrenze gebracht. Provokation und Aufruhr ist das Mittel ihrer Aktionen. Die empörten und angriffigen Zeitungsartikel, die über die verschiedenen Aktionen verfasst wurden, schmücken wie Trophäen die Webseite des ZPS.  Interview mit einem Aktivisten:
https://www.vice.com/de/article/znk3vw/die-neuen-mauertoten-europas-772
Proteste gegen Treffen der Weltbank und des IWF in Prag
Im September 2000 fanden Proteste gegen Treffen der Weltbank und des IWF in Prag statt. Der Schwarze Block von ungefähr 5000 Menschen hatte riesige blaue Bälle dabei. Darauf stand in oranger Schrift „Balls to the IMF“. Der Plan war die Belagerung des Treffens, doch, wie erwartet, verunmöglichte die zahlreiche, schwer bewaffnete Polizei das Vorhaben. Das Gefecht ging los, die Wasserwerfer wurden eingesetzt – das ist der Moment der Bälle. Sie verkörperten die Vorhersehbarkeit der Repression, sind eine scherzhafte Vorwegnahme, was passieren würde, die Vorbereitung auf die Front und der Versuch eines spielerischen Umgangs damit. (Interpretation von Christian Scholl) Folgende zwei Filme zeigen die Verwendung der blauen Bälle. https://www.youtube.com/watch?v=iXn6Kv6_pqw, https://www.youtube.com/watch?v=GIVvBF_7JDo
Gemälde als Barrikaden
1849 gab es in Dresden einen sozialistischen Aufstand, der von preussischen Truppen bedroht wurde. Mikhail Bakunin schlug vor, Gemälde aus den nationalen Museum zu benutzen um sie vor die Barrikaden zu hängen. So sollten die bürgerlichen Gefühle provoziert werden und ein Angriff verhindert werden. Der Vorschlag setzte sich nicht durch, nicht alle wollten damals die Kunst instrumentalisieren.
Aus dem Sammelband Cultural Activism – herausgegeben von Begüm Özden Fırat and Aylin Kuryel.
Tute Bianche (Die Weissen Overalls)
Tute Bianche (Die Weissen Overalls) entstanden aus einer Repressionswelle in Italien. Die Aktivisten haben mit Kissen ausgefüllte weisse Overalls getragen, um sich vor Polizeigewalt zu schützen und an Orte zu gelangen, die gewaltsam abgeschottet werden. Sie wollten soziale Konflikte sichtbar machen – aufzeigen, wer Gewalt ausübt und damit trotzdem die Mächtigen konfrontieren. Das Bild eines ausgepolsterten, sich schützenden Aktivisten gegenüber einem massiv bewaffneten Polizisten spricht für sich selbst. Sie haben bei einem Protest in Barcelona Plexiglasschilder benutzt, auf die sie Bilder von Kindern klebten, wie sie auf Spendeaufrufen abgebildet sind.
https://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/free/tute/
https://www.azzellini.net/zapatisten/die-tute-bianche-weisse-overalls
Zwarte Piet is Racisme
Das Projekt Zwarte Piet is Racisme wurde 2013 in Amsterdam ins Leben gerufen. Dabei wird die Tradition vom Schwarzen Peter, dem Begleiter des Sinterklas, als rassistisch angeprangert. Das Projekt hat eine breite mediale Beachtung gefunden und wurde emotional-kontrovers diskutiert. Sie haben das Logo „Zwaarte Piet is Racisme“ auf T-Shirts gedruckt, Diskussionen und Proteste veranstaltet, sowie eine gefälschte UN Meldung herausgegeben, in der es hiess, dass eine Rassimusanklage gegen die niederländische Regierung abgeklärt wird.
Proteste Lampedusa
Seit über 10 Jahren finden auf Lampedusa immer wieder Proteste von vielen geflüchteten Menschen statt. Im Januar 2009 haben sie dabei das „eigene“ Flüchtlingslager angezündet. Sie fordern die Möglichkeit, sicher zu reisen und an den Bestimmungsort gehen zu können, den jede*r selbst wählt. Die Gruppe Askavusa Lampedusa informiert darüber und stellt konkrete Forderungen in Form von Appellen an die Staatsorgane. Ausserdem führt sie einen Blog und begleitet einzelne Menschen dabei, ihre Rechte einzufordern. Am 2.1.2018 haben sie in einem Haus in der Nähe des Hotspots einen Mann hängend gefunden – die letzte Form des Protest. Sie sagen: „Das ist das extremste Ereignis einer Serie von Selbstschädigung, die die zum Bleiben Gezwungen sich selbst angetan haben.“
https://medium.com/@AreYouSyrious/ays-daily-digest-05-01-2018-the-trickle-down-effect-d957f1623b03
NOBESE action group
Die NOBESE action group wurde 2005 geformt, um gegen die Überwachung in Istanbul in Aktion zu treten. Es wurden Flugblätter bei der Eröffnung des neuen Überwachungssystems verteilt und Strassenaktionen durchgeführt, in denen Überwachung und Kontrolle in Performances auf der Strasse gezeigt wurde. Die Kameras wurden fotografiert und mit Ferngläsern betrachtet und Stickers “evil eye” verteilt. Die Aktionen wurden mit Musik begleitet, um möglichst viel Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum zu erzielen.
Theater der Unterdrückten, Unsichtbares Theater
Beim Theater der Unterdrückten werden Situationen, in denen Menschen nicht handlungsfähig sind, nachgespielt und gemeinsam neugestaltet. Daraus ist später das Unsichtbare Theater gewachsen. Dabei werden im öffentlichen Raum Situationen inszeniert, die auf politische Themen hinweisen und den unwissenden Beteiligten eine Erfahrung ermöglichen. Das unsichtbare Theater entwickelte sich, weil offener Protest aufgrund der Repression nicht möglich war.
Weiteres zum Nachlesen
-Weitere Bücher zu kreativen Interventionen:

https://www.goodreads.com/book/show/755962.The_Interventionists
-Handbuch der Kommunikationsguerilla, das verschiedene Formen davon beschreibt und diskutiert:
http://kommunikationsguerilla.twoday.net/topis/a.f.r.i.k.a.-texte/
Die Siuationisten und Dadaisten, die es leider nicht mehr in die Liste geschafft haben.
http://library.nothingness.org/articles/SI/en/
-Anarchistische Rezeptbücher:
https://de.scribd.com/doc/11251441/The-Anarchist-Cookbook-by-William-Powell-1971
http://bnrg.cs.berkeley.edu/~randy/Courses/CS39K.S13/anarchistcookbook2000.pdf
https://crimethinc.com/books/recipes-for-disaster
-Ein Podcast zu der „Hedonistischen Internationalen“:
https://cre.fm/cre185-hedonistische-internationale
-Werk, das weitere direkte Aktionen erklärt und diskutiert:
Direkte Aktion von David Graeber

Bei der Erarbeitung der Liste hat die Autorin darüber nachgedacht, dass es gut ist, ein Bewusstsein zu haben, was mensch will: provozieren – auf was hinweisen – Gefühle ausleben – sich organisieren und Banden bilden – Verhältnisse zu dekonstruieren – nach Alternativen zu suchen – Utopien leben – viel mediale Aufmerksamkeit für ein Thema – sich einem Thema einfach irgendwie zuwenden und einfach irgendwas damit machen – Solidarität zeigen – eine Debatte entfachen – ein konkretes Ziel verfolgen – parallele Organisationen und alternative Wege im bestehenden System schaffen – die Lebensbedingungen im gegebenen Strukturen / Situationen verbessern. Weiter stellt sich die Schwierigkeit der Übereinstimmung von Zweck und Aktion, die Ungerechtigkeit in den unterschiedlichen Handlungsspielräumen, der Konflikt zwischen Absicht und Ergebnis, das Verhältnis und die Wahrnehmung im Einsatz von verschiedenen Mitteln in gegebenen Kontexten, die Instrumentalisierung der Situation gegen die mensch sich wehrt – oder ob damit das eigentliche Ziel oder die Ideologie sabotiert wird – und weshalb das dann so ist. Sie hofft, dass sich Leser*innen von den Beispielen, die passen, für eigene Aktionen inspirieren lassen, oder – noch besser – bei dem, was nur so halb gefällt, weiterdenken, wie es verändert werden müsste, damit es für sie Sinn ergibt.

Gesetzesvollstrecker*innen oder Bullen? zum Sprachgebrauch im FIASKO

Wie zu jeder FIASKO-Ausgabe fand auch letztes Mal ein öffentlicher Diskussionsabend statt. Dieser sollte unter anderem als Plattform für Kritik und Anregungen dienen. Ein Kritikpunkt, der an diesem Abend aufgebracht wurde, bezog sich auf den Sprachgebrauch im FIASKO. Begriffe wie „Bullen“ und „Knast“ würden auf einige Leser*innen abschreckend wirken und dazu führen, dass das Fiasko in „die Schublade links aussen“ eingeordnet werde. Daraus resultiere eine geringere Reichweite des Magazins, da sich Leser*innen durch die verwendete Sprache nicht angesprochen fühlten oder gar eine Abwehrhaltung einnehmen könnten.
Diese Zeitschrift hat sehr wohl den Anspruch einer kritische Intervention gegen Migrationsregime und eine Einbettung dieser Kritik in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Somit ist es legitim, von links-aussen zu sprechen. Einige Fragen kommen auf: Wer wird abgeschreckt von dieser Haltung? Weshalb? Und was bedeutet diese Schubladisierung für uns? Wen möchten wir überhaupt erreichen? Und mit welchen Mitteln? Wie können wir Inhalte und Positionen klar vertreten, ohne dabei Leser*innen abzuschrecken, für die manche Themen oder Formulierungen ungewohnt oder neu sind? Im Folgenden möchten wir uns dieser Kritik an unserem Sprachgebrauch widmen und einige Gedanken dazu teilen:

 

1. Die (deutsche) Sprache ist Ausdruck des patriarchalen Systems, in dem wir leben. Daher ist es wünschenswert, dass mit neuen oder alternativen Vorstellungen auch neue Begriffe, Wörter und Satzstrukturen gefunden werden. Diese können wiederum befreitere Denkstrukturen hervorrufen.

2. Wir sehen also einen Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch und Gesellschaftskritik. Ein Beispiel hierfür ist das Gender-Sternchen (*), oder der Begriff geflüchtete Person anstelle des verniedlichenden und herablassenden Begriffs Flüchtling. Wir begrüssen einen mutigen, selbstkritischen Umgang mit Sprache und Begriffen.

3. Kontinuität spielt eine wichtige Rolle. Liest mensch einmal einen Begriff, über den er*sie stolpert, der provoziert, kann das schnell zu Unverständnis und Distanzierung führen. Möglicherweise wird aber genau dadurch eine inhaltliche Grundsatzdiskussion befördert.

4. Über Begriffe und deren Inhalt kann mensch streiten. Wenn wir bei den genannten Beispielen Knast und Bullen bleiben, so können die salonfähigeren Begriffe Gefängnis und Polizist*innen in bestimmten Kontexten verharmlosend sein. Die Sprache verliert an Deutlichkeit. Gleichzeitig kann kritisiert werden, dass diese Begriffe keine neuen Bilder, kein weiterführendes Denken befördern, da die Wörter nicht überraschend eingesetzt werden, sondern eher in einem bestimmten Slang verharren.

5. Das FIASKO-Kollektiv hat bis auf wenige Ausnahmen (Siehe Punkt 8) keine homogene Sprache. Es ist uns wichtig, dass alle Autor*innen bewusst entscheiden, welche Begriffe treffend sind. Es gibt in diesem Sinne keine Vorgaben für den Sprachgebrauch, was sich auch in der jetzigen Ausgabe widerspiegelt.

6. Daraus geht hervor, dass eine eindeutige Haltung zu solchen Begriffen für uns nicht angebracht ist. Viel wichtiger ist uns ein bewusster, reflektierter und emanzipatorischer Gebrauch von Sprache und Wortwahl, passend zu den jeweiligen Texten.

7. Zu einem bewussten Umgang gehört kritische Selbstreflexion. Was passiert, wenn ein Begriff zu Mainstream wird: Hat die gewünschte Veränderung stattgefunden oder ging der emanzipatorische Charakter verloren? Wurde der Begriff zu einer inhaltsleeren Worthülse? Könnte ein Begriff diskriminierend oder ausschliessend wirken? Etc.

8. Ein paar grundsätzliche Entscheidungen sind uns dennoch wichtig. Im FIASKO soll in allen Texten das Gender-Sternchen (*) verwendet werden. Dadurch werden auch diejenigen Menschen sprachlich berücksichtigt, die sie nicht mit den Begriffen Mann oder Frau identifizieren und dadurch Diskriminierung ausgesetzt sind. Ausserdem ist eine rassistische, sexistische, patriarchale, antisemitische oder andersartig diskriminierende Sprache in dieser Zeitschrift mehr als unerwünscht.

…ja, der nächste Diskussionsabend kommt, weitere Texte wohl auch. Vor lauter Sprechen das Handeln nicht vergessen, yalla!

 

Aus dem ethymologischen Wörterbuch

-Knast (ugs. für:) „Freiheitsstrafe; Gefängnis“: Das seit dem 19. Jh. bezeugte Wort stammt aus der Gaunersprache, vgl. jidd. knas „Geldstrafe“, kansen „(mit Geldbusse) bestrafen“, hebr. Qenas „Geldstrafe“.

-Bulle: Das im 17.Jh. aus dem Niederd. ins Hochd. übernommene Wort geht zurück auf mnd. bulle „(Zucht)stier“, vgl. gleichbed. niederl. bul, engl. bull, aisl. boli. Die Bezeichnung des Stiers gehört zu der unter Ball dargestellten idg. Wurzel *bhel- „schwellen“ und ist z.B. eng verwandt mit griech. phallos „männliches Glied“ und air. ball „männliches Glied“. Der Bulle ist also nach seinem Zeugungsglied benannt.

WEek END BÄSSLERGUT

Seit Anfang dieses Jahres wird das Ausschaffungsgefängnis Bässlergut am Zoll Otterbach in Basel um ein zweites Gebäude erweitert. Mit einem Diskussionswochenende vom 6.-8. Oktober 2017 rund um die Bblackboxx und unmittelbar neben der Baustelle wollten wir unsere Kritik an diesem Unternehmen mit möglichst vielen Menschen teilen. Und uns über die Verhältnisse, unsere Utopien und eine widerständige Praxis austauschen. Gleichzeitig wollten wir unsere Anwesenheit Teil des Widerstands gegen Knäste, Grenzen und Repression werden lassen. Der Anlass wurde von Einzelpersonen organisiert, die sich bereits in diesem Themenfeld engagiert und darüber auch zusammengefunden haben.

Vielfältige Kritik an den Verhältnissen, die sich im Bässlergut zeigen

Das Programm wurde am Freitagabend mit einem gut besuchten NoLager-Rundgang um das Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ), den bereits bestehenden Trakt des Auschaffungsgefängnisses Bässlergut I und der aktuellen Baustelle Bässlergut II eröffnet. Das im Gespräch mit Inhaftierten über die Jahre gesammelte Wissen zur alltäglichen Praxis hinter diesen Mauern wurde geteilt. In einem anschliessenden Input wurden die Entwicklungen und Zusammenhänge der Asyl- und Strafpolitik aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, dass der Neubau Ausdruck einer Entwicklung ist, nach welcher in Zukunft mehr Migrant*innen und mehr mittellose Menschen eingesperrt werden – was nicht selten die selben sein werden, einfach abwechselnd in Ausschaffungshaft im alten und in Strafhaft im neuen Gebäude.

Mit einer allgemeinen Kritik an der Institution Gefängnis quer durch die letzten zweihundert Jahre wurde der Samstag eröffnet. In Kleingruppen wurde über das subjektive Sicherheitsempfinden gesprochen. Häufig wurde hier das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit in Freundeskreisen oder in politischen Zusammenhängen genannt. Dabei spielten die strukturellen Sicherheiten, wie ein Schweizer Pass und die damit verbundenen Privilegien, eine eher untergeordnete Rolle. Kann man Angst vor Hunger haben, wenn man noch nie gehungert hat? Ein Diskussionsteilnehmer hat seine Privilegien auch als Abhängigkeiten beschrieben, da sie entzogen werden können, wenn man nicht mitspielt (Bewegungsfreiheit, diverse Sozialleistungen usw.).Vermittelt durch eine Gruppe von regelmässigen Gefängnisbesucher*innen und inhaftierten Menschen wurde am Samstagnachmittag den Insassen von Bässlergut I ein solidarischer Besuch abgestattet. Für viele Besucher*innen war das eine neue und wichtige Erfahrung. Und auch die Gefangenen haben sich über diese direkte Solidarität gefreut. Ein regelmässiger Besucher bestätigte, dass er noch nie zuvor so viele Menschen im Besucherraum des Gefängnisses erlebt habe. Aus diesem kollektiven Besuch sind nun monatliche, offene Besuchstreffen entstanden (siehe Agenda, S. 70).

Parallel zum Gefängnisbesuch wurde ein Einblick in die historische Entwicklung der Idee und Praxis von Verwahrung gegeben. Tatsächlich existiert in der Schweiz unter diesem Begriff eine langjährige oder sogar lebenslange Haft, die von Psychiater*innen durch den Einbezug von Computerprogrammen zur Diagnose verhängt wurde. Eine anschliessende Diskussion in einer kleineren Gruppe widmete sich der Frage, wie ein solidarischer Umgang mit psychisch erkrankten Menschen gestaltet werden könnte. Im Vordergrund stand dabei die Kritik an der entmenschlichten und normierenden Funktion von psychiatrischen Kliniken, sowie das eigene Unwissen und Unbehagen im Zusammenhang mit psychischen Beeinträchtigungen im eigenen Umfeld. Um solidarisch mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung umgehen zu können, braucht es einerseits spezialisiertes Wissen und anderseits aber auch sensibilisierte soziale Verhältnisse, dies ein Schluss aus der Diskussion.

Am späteren Nachmittag wurde eine kurze Geschichte der Privatisierung des Gefängniswesens in den USA erzählt. Eine Vielzahl von internationalen (auch europäischen) Firmen konkurriert um den Markt mit den Häftlingen, betreibt Lobbyarbeit für eine restriktivere Gesetzgebung und beutet die Insassen als Arbeitskräfte aus. Das Gefängniswesen wurde als wirtschaftliche Branche erkennbar.

Der Tag wurde mit einer Filmvorführung vom Kino Vagabund beschlossen: Ausschnitte aus „Vol spécial“ von Fernand Melgar und der Kurzfilm „Einspruch VI“ von Rolando Colla. Eine kontroverse Diskussion drehte sich um die Frage, ob Betroffenheit und Identifikation mit den Opfern des Ausschaffungsregimes die (richtige) Voraussetzung für einen politischen Kampf ist, bzw. wie und ob es den beiden Filmen überhaupt gelingt, strukturelle Zusammenhänge aufzuzeigen und eine klare Haltung dazu einzunehmen. Nicht zuletzt wurde auch die Frage aufgeworfen, was es nützt, zu schauen, wenn man doch handeln müsste.

Am Sonntagmorgen hat uns ein Mensch ohne Papiere seinen Weg durch die schweizer Lager, Gefängnisse und Psychiatrien hin zu einem politischen Umfeld und zum eigenen Kampf aufgezeigt. Schwerpunkt seines Inputs war der Widerstand. Er schilderte, wie ihm der aktive Widerstand gegen das bestehende System, eine damit verbundene Praxis und der Austausch mit Gleichgesinnten eine längerfristige Perspektive in der Schweiz gegeben haben.

Am frühen Nachmittag wurden in einem Workshop die Fragen nach Privilegien, Schuldgefühlen und Solidarität verhandelt. In Kleingruppen wurden die Begriffe definiert und diskutiert. Ein Mensch ohne Papiere mit mehrmonatiger Knasterfahrung meinte, dass Gefängnisbesuche für ihn eine wichtige und starke Geste der Solidarität seien. Gleichzeitig kritisierte er die Gleichsetzung des Begriffes Solidarität mit Wohltätigkeit und karitativer Arbeit, was er in der Schweiz oft erlebt habe. In einigen Kleingruppen wurde auch diskutiert, ob Privilegierte die eigenen Privilegien in einem solidarischen Kampf nutzen sollen, auch auf die Gefahr hin, die Strukturen zu reproduzieren, die diese Privilegien hervorbringen. Oder ob diese Privilegien produzierenden Strukturen als Ganzes abgelehnt werden sollten, auch wenn dann einige Unterstützungsmöglichkeiten wegfallen.

Gedankenanstösse zum Widerstand

Unsere kritische Präsenz neben dem neuen Strafgefängnis Bässlergut II, dem Ausschaffungsgefängnis Bässlergut I sowie dem EVZ stellte eine erste Form des Widerstandes dar. Es gab viele angeregte Diskussionen, in welchen Inhalte vermittelt und kritisch beleuchtet wurden. Die thematisch reichhaltigen Vorträge und das breite Spektrum der Kritik zeigten viele zu bekämpfende Strukturen und Praktiken auf. Schwierig blieb jedoch, wie dieses Wissen und der Austausch in eine widerständige Praxis übersetzt werden können. So hat das Wochenende zwar aufgerüttelt, doch leider kaum neue Handlungsperspektiven eröffnet, sondern teilweise eher ein Gefühl von Ohnmacht bei einigen Teilnehmer*innen hinterlassen. Die Frage, wie und wo sich geteiltes Wissen wieder in eine Praxis überführen lässt, könnte bei einem nächsten Anlass vielleicht schon in der Planung stärker einbezogen werden.
Mehrere direkt Betroffene haben betont, dass ein glaubwürdiger und wirksamer Widerstand eine höhere Bereitschaft zu Handlungen erfordert, welche auch das eigene Leben in Frage stellt und Risiken, wie Geld- oder Haftstrafen oder den Verlust von Privilegien, mit sich bringt. Vielleicht sollten tatsächlich auch diejenigen, die nicht sowieso schon mit einem Risiko leben, den Widerstand ernster verfolgen und auch die damit einhergehenden Risiken nicht scheuen.

Während wir bei der Mobilisierung zum Anlass noch mit oberflächlichen Fragen zur Abschiebepolitik konfrontiert wurden, bewegten sich die Diskussionen während dem Wochenende fast ausschliesslich im Rahmen antikapitalistischer Grundannahmen. Der dominante gesellschaftliche Diskurs für Ausschaffungspolitik à la „es ist eine menschliche Tragödie, aber es können halt nicht alle hierher kommen“ war an diesem Wochenende kein Thema.

Nicht zuletzt wurde auch die Frage aufgeworfen, was es nützt, zu schauen, wenn man doch handeln müsste.

Einerseits ist das eine angenehme Ausgangslage für weiterführende Diskussionen, anderseits gerät dabei auch schnell in Vergessenheit, wie stark jedes Alternativmodell zum aktuellen Migrationsregime auf einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel angewiesen ist und auch nur auf diesem Hintergrund verstanden werden kann. Soll die Migrationspolitik sich ändern, muss sich das politische und wirtschaftliche System ändern und damit auch ein Wandel in der Gesellschaft geschehen.

Gemeinsames und Ausgeschlossene

Allgemein war der Anlass mit gut zweihundert Teilnehmer*innen über das Wochenende trotz eher kaltem und regnerischem Wetter sehr gut besucht. Die Menschen aus dem EVZ waren zwar präsent, haben aber nur wenig an den eigentlichen Veranstaltungen teilgenommen, auch wenn sie vor den Veranstaltungen über die Themen und die Übersetzungsmöglichkeiten informiert wurden. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob die Form des Vortrags mit Diskussion den idealen Raum für einen solchen Austausch bilden kann. Dank der hervorragenden und durchgehenden KüfA wurde in den kurzen Pausen jedoch gemeinsam gegessen und in Einzelgesprächen oder kleinen Gruppen viel diskutiert.
Die Polizei ist trotz kritischem Thema und Ort nur zweimal offen in Erscheinung getreten. Die Repression hat sich leider dennoch auf das Wochenende ausgewirkt. Einige Interessierte waren auf der anderen Seite der Gefängnismauer und nicht wenige haben sich aus Angst vor Verfolgung und Verhaftung nicht an die Veranstaltungen gewagt.

Ausblick

Am 30. Oktober hat bereits ein Folgetreffen stattgefunden, an dem mehr über Perspektiven und Möglichkeiten von Widerstand diskutiert wurde. Deutlich wurde beim Treffen das Bedürfnis nach langfristiger, offener und transparenter Organisation sowie einer klareren Einmischung in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs und die Verhältnisse geäussert. Regelmässige, offene Austauschtreffen sind weiterhin geplant. Und auch viele Auseinandersetzungen und Praktiken (wie die aus dem Wochenende hervorgegangenen kollektiven Gefängnisbesuche) gehen offen weiter.
Der Bau des Bässlerguts dauert noch bis 2019. Es ist zu befürchten, dass die darin materialisierten Verhältnisse auch über dieses Datum hinaus bestehen. Denn eine Infrastruktur, die gebaut wird, muss im Anschluss auch genutzt werden. Der gemeinsame Widerstand in Diskussion und Handlung bleibt eine Notwendigkeit!

Von Privilegien, Schuldgefühlen und Solidarität

Die Auseinandersetzung mit dem Migrationsapparat in der Schweiz veranschaulicht deutlicher wie andere Herrschaftsformen die Brutalität, mit der in unserer Gesellschaft mit Menschen umgegangen wird. Von einem bürokratischen Apparat legitimiert, im demokratischen Gewand umhüllt, werden Menschen in Lagern konzentriert, in verschiedene Verwertungskategorien eingeteilt und in ihrem selbstständigen Handeln stark eingeschränkt. Das Migrationsregime bietet zig Gründe, es zu verachten und abzulehnen; in irgendeiner Form dagegen aktiv zu werden und sich mit Migrant*innen zu solidarisieren. Gleichzeitig konfrontiert Mensch die Auseinandersetzung mit dem Migrationsregime mit eigenen Privilegien und Widersprüchen und wirft die Frage der Solidarität auf.

Sich mit dem Elend anderer konfrontiert zu sehen, kann zu Ohnmacht und zu Schuldgefühlen führen. Diese kommen von der Erkenntnis, dass die Privilegien, die Mensch als Schweizer*in «geniesst», völlig willkürlich sind und auf der Unterdrückung und dem Ausschluss tausender anderer Menschen beruhen. Dass der Überfluss an Materiellem, der Lebensstil, den wir pflegen, nur einem ausgewählten Teil der Gesellschaft möglich ist. Schuldgefühle sind eine Antwort auf unser eigenes Handeln (oder eben nicht-Handeln), also auf die Art, wie wir unser eigenes Leben führen. Eine mögliche Reaktion darauf ist ein karitativer Reflex, der Versuch etwas von seinen Privilegien abzugeben und anderen Menschen irgendwie zu helfen. Sei es durch das Beibringen der Sprache, der Bereitstellung materieller Güter, das Schreiben von juristischen Beschwerden. Ich will keinesfalls diese Arten von Unterstützung als per se schlecht oder unnütz darstellen. Allerdings sollte vor dem Handeln auch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Position, den eigenen Privilegien stattfinden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Position impliziert eine Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und der rechtlichen und politischen Institutionen. Erstere werden durch Letztere in Komplizenschaft mit den gesellschaftlichen Mitglieder*innen produziert und beeinflussen das eigene Leben stark. Kommt Mensch zum Schluss, dass er diese Gesellschaft ablehnt, heisst dies automatisch auch seine eigene Position, seine eigene Lebensführung kritisch zu hinterfragen und seine vom Staat erhaltene Position abzulehnen. Mit der Ablehnung dieser Gesellschaft werden wir alle zu Unterdrückten, weil die Verhältnisse, in denen wir leben, nicht von uns selbst bestimmt werden. Gegenüber anderen privilegiert sein, bedeutet in dem Sinne, vergleichsweise weniger Ausbeutung und Unterdrückung in dieser Gesellschaft zu erleiden. Mensch mag nun argumentieren, dass wir doch in der Schweiz, einem verhältnismässig fortschrittlichen Land leben. Wenn damit die technischen und ökonomischen Neuerungen gemeint sind, die zur Steigerung des Konsums der Gesellschaftsmitglieder beitragen, mag dies stimmen. Die Schweiz ist gewiss ein Land, in welchem du, sofern du über die nötige gesellschaftliche Stellung verfügst, ein Leben voller materieller Sicherheit und Konsum führen kannst. Wenn Fortschritt aber als Massstab verstanden wird, welche die Möglichkeit zur freien Gemeinschaft mit anderen, zur Selbstverwirklichung und zur Eigeninitiative der Menschen misst, so leben wir doch in einem gar unfreien und rückständigen Staat, einem Land voller (Selbst)disziplinierung und Beschränkungen, die unseren gesamten Alltag durchdringen. Es bleibt die Frage aufzuwerfen inwiefern jede*r ein angepasstes Leben führt und sich in diese Gesellschaft integrieren lässt. Inwiefern wir die Verhältnisse kritisieren, in denen wir leben, aber in unserem Alltag den für uns vorgesehenen Platz nicht verlassen und an unseren Privilegien hängen. Natürlich kann Mensch die Privilegien, die er hat, nicht einfach ablegen, aber er kann sie ablehnen, indem er in Konflikt mit Strukturen und Mechanismen tritt, die die Menschen kategorisieren und fremdbestimmen und somit den persönlichen Konflikt zum Teil des Kampfes gegen das Migrationsregime machen. Die Verweigerung seiner eigenen gesellschaftlichen Position ist kein rein individueller Akt und muss im Zusammenschluss mit anderen geführt werden. Jedoch steht zuallererst die individuelle Entscheidung, die Institutionen, welche uns in Machtpositionen zu anderen setzen, zu negieren und zu bekämpfen. Um zum Widerstand gegen das Migrationsregime zurückzukommen, stellt sich nun die Frage, was Solidarität in diesem Bereich heissen kann. Solidarität sollte keinesfalls als eine Beziehung des Dienstes, basierend auf der Konzeption der Schuld sein. Nicht Individuen sind es, die in der Schuld von irgendwem stehen, sondern die soziale Ordnung ist es, die Menschen etwas aufzwingt. Schuldig sind wir nur (und vor allem gegenüber uns selbst), wenn wir die soziale Ordnung, so wie sie ist, akzeptieren und unseren vordefinierten Platz darin einnehmen. Wenn Solidarität bedeutet zusammen mit seinen Mitmenschen als Gleiche zu verkehren, um unsere gemeinsamen Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, muss Solidarität auch bedeuteten die Verhältnisse, die ein auf Freiwilligkeit und Bedürfnissen basierendes Zusammenleben verhindern, zu negieren. Solange es Staaten, Gesetze, Normen und eine Ökonomie gibt, die uns definieren und unser Handeln bestimmen, gestaltet sich ein solidarischer Zusammenschluss von Menschen als sehr schwierig. Solange Machtverhältnisse unser Verhalten und unser Handeln beeinflussen, solange Kategorisierungen uns trennen, können wir unsere Existenz nicht selbst bestimmen. Eine Grundvoraussetzung für einen solidarischen Umgang mit Menschen, welche weniger privilegiert als Mensch selber sind, ist der persönliche Konflikt mit dieser Gesellschaft, welcher sich auch im alltäglichen Leben manifestieren muss und die Suche nach Wegen, wie wir der Unterdrückung etwas entgegenhalten können. Solidarisch sein heisst natürlich auch, sich der unterschiedlichen Ausgangslagen von Menschen bewusst zu sein und ihnen Rechnung zu tragen. Zu versuchen die Isolierung ausgeschlossener Menschen zu durchbrechen und nach Wegen gemeinsamen Handelns zu suchen; Eine Praxis zu finden, welche nicht auf der Integration von Ausgeschlossenen in diese Gesellschaft beruht, die wir ja eigentlich ablehnen, sondern eine, welche diese Gesellschaft negiert und angreift und mit anderen Formen des Zusammenlebens experimentiert.

Dieser Artikel soll als Diskussionsanstoss zur kontroversen Frage dienen, was Solidarität mit migrantischen Kämpfen bedeuten kann. Durch verschiedene Tätigkeiten kam der Autor in Kontakt mit dem repressiven Migrationsapparat und solidarischen Gruppen. In Letzteren fehlt ihm oftmals der Bezug zum eigenen Leben und zu eigenen Privilegien. Der Autor dieses Textes ist ein Schweizer Bürger, der den grössten Teil seines Lebens in der Schweiz verbracht hat.